„Das Bürgergeld steht für Kulturwandel“: Frank Bsirske wirft der CDU Propaganda vor
Herr Bsirske, wie war das erste Jahr im Bundestag?
Ich
hatte schon häufig den Eindruck, in einem Raumschiff mit vielen
Einzelkämpfern unterwegs zu sein. Die Integrationsaufgabe für die
Fraktionsvorsitzenden ist groß – und sie gelingt in der 118 Köpfe
zählenden Fraktion der Grünen ziemlich gut.
Was ist dem arbeitsmarktpolitischen Sprecher der Grünen-Fraktion gelungen?
Im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik haben wir viel vorangebracht. Mit dem gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro und dem Bürgergeld wurden
zwei zentrale Versprechen eingelöst. Bei der Erwerbsminderungsrente
gibt es Verbesserungen, das Kurzarbeitergeld wurde verlängert. Das kann
sich alles sehen lassen.
Wie geht es weiter?
Die
Verbesserung der Tarifbindung und ein Weiterbildungsgesetz stehen in
den kommenden Monaten an; wir werden das Rentenniveau dauerhaft
stabilisieren und schauen uns das Sonderarbeitsrecht der Kirchen
an. Wir haben uns viel vorgenommen, aber nach den Erfahrungen in diesem
Jahr bin ich optimistisch, dass wir auch viel umsetzen werden.
Vertrauen statt Misstrauen im Jobcenter
Ist das neue Bürgergeld tatsächlich eine Überwindung von Hartz IV oder nur ein neues Etikett?
Für mich ist das ein Kulturwandel. Im Bereich der aktiven Leistungen setzen wir ganz deutlich den Schwerpunkt beim Fördern. Der Stellenwert von Aus- und Weiterbildung
ist künftig viel höher als der Vermittlungsvorrang, der dazu geführt
hat, dass auch prekäre Arbeitsverhältnisse akzeptiert werden mussten und
der Niedriglohnsektor größer wurde. Wir zielen auf eine neue Qualität
der Kooperation der Jobcenter mit den Leistungsbeziehenden, auf
Unterstützung und Vertrauens-Bildung statt Misstrauen, auf nachhaltige
Vermittlung und mehr Sicherheit für die Betroffenen statt
Abstiegsängsten. 2023 soll dann ein zweites Gesetzespaket folgen, mit
dem wir den Sozialen Arbeitsmarkt und die Arbeitsförderung
weiterentwickeln.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass sich schlecht bezahlte Arbeit für manche nicht mehr lohnt aufgrund des neuen Bürgergeld?
Das
ist Propaganda. Die Union hat damit gearbeitet und eine lügenbasierte
Kampagne aufgesetzt. Fakt ist: Wer wenig verdient und aufstockende
Leistungen bezieht, hat immer mehr als jemand, der nicht arbeitet. Es
wurden gezielt Äpfel mit Birnen verglichen, Hartz IV-Bezieher , die
alles an Sozialtransfers ausschöpfen, was ihnen zusteht mit
Niedriglöhnern, die genau das nicht tun, obwohl auch sie Anrecht auf
Kinder - und Wohngeld hätten. Ebenso war die Behauptung Unsinn, das
Bürgergeld sei quasi ein bedingungsloses Grundeinkommen, weil es keine
Sanktionen gebe.
Sie argumentieren doch selbst, dass es bei dem Begriffspaar „Fördern und Fordern“ künftig ums Fördern geht.
Wir
stärken das Fördern, ohne das Fordern aufzugeben. Die Ampel hat stets
auch Leistungsminderungen vorgesehen, wenn Leistungsempfänger
Mitwirkungspflichten nicht nachkommen. Die Union hat das Gegenteil
behauptet, das war gelogen.
Der Vermittlungsvorrang im Hartz-System wird gleichsam abgelöst durch einen Weiterbildungsvorrang. Wie kann das funktionieren?
Etwa
seit 2011 haben wir eine Stagnation der Teilnehmendenzahlen an
Weiterbildungsmaßnahmen im Hartz-IV-Bereich. Einer der Gründe ist die
Arbeitsaufnahme in Helferjobs, dafür wurde dann Weiterbildung
aufgegeben. Mit dem neuen Weiterbildungsgeld von monatlich 150 Euro für
Maßnahmen, die zu einem Berufsabschluss führen, wollen wir die
Attraktivität von Weiterbildung erhöhen. Zusätzliche Anreize gibt es
noch durch Prämien für erfolgreiche Zwischen- und Abschlussprüfungen.
Und das trägt dann zum Abbau des Sockels an Langzeitarbeitslosen bei und hilft gegen den Arbeitskräftemangel?
Wir
haben bei vielen Menschen im HartzIV-Bezug größere Hürden vor der
Integration in den Arbeitsmarkt. Das gilt für Alleinerziehende, Kranke
und für Menschen mit Krisenstörungen. Aber es gibt auch
Leistungsbeziehende, die über Weiterbildung zu einer Verbesserung ihrer
Beschäftigungsfähigkeit kommen können. Dieses Potenzial nicht zu nutzen,
wäre fahrlässig. Des Weiteren brauchen wir eine stärkere
Erwerbstätigkeit von Frauen, eine mitarbeiterfreundliche Arbeitskultur,
damit Fachkräfte gern und länger gesund im Beruf bleiben und viel mehr
Arbeitskräfte, die aus dem Ausland zu uns kommen und bleiben.
Ohne Fachkräfte aus dem Ausland ist die Gesundheitsvorsorge schon bald nicht mehr gewährleistet.
Frank Bsirske
Gegen das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der SPD-Minister Heil und Faeser gibt es reichlich Widerstand.
Was
wir an Debattenbeiträgen aus der Union und Teilen der FDP erleben, ist
kontraproduktiv und widerspricht den Interessen der Wirtschaft. Nur ein
Beispiel: Ohne Fachkräfte aus dem Ausland werden wir die
Gesundheitsversorgung schon bald nicht aufrechterhalten können. Die
Prognosen gehen dahin, dass 2035 11.000 Hausärzte fehlen, in jedem
zweiten Landkreis wird es dann nicht ausreichend Ärzte geben, wenn es
uns nicht endlich gelingt, gegenzusteuern.
Und wie gelingt das?
An
der ganzen Prozesskette müssen wir ansetzen: Beginnend mit der
Rekrutierung im Ausland und am Ende mit einer echten Willkommenskultur
im Inland. Es gibt ja immer noch die Haltung, als würden wir den
ausländischen Arbeitskräften einen Gefallen tun, dass sie bei uns
arbeiten dürfen. Dabei sind wir auf sie angewiesen. Es ist völlig irre
und an der Realität vorbei, wie aus Kreisen der CDU/CSU heißt,
Einwanderung in unser Sozialsystem dürfe nicht das Ziel sein. Derzeit
haben 17 Prozent der in die gesetzliche Rentenversicherung Zahlenden
eine ausländische Staatsangehörigkeit. Was gegen Deutschland spricht,
ist die schwierige Sprache. Was aber für Deutschland spricht, ist das
Sozialsystem - ein echter Wettbewerbsvorteil bei der Gewinnung
ausländischer Fachkräfte.
Welche Art Willkommenskultur schwebt Ihnen vor?
Dass
Menschen kommen, wo man doch nur Arbeitskräfte sucht - das sorgte in
den westdeutschen Industriezentren schon in den 1960er Jahren für
Verwunderung. Merz und Söder wollen mehr Fachkräfte, aber bitte keine
potenziellen Deutschen aus dem Ausland. Nur, so läuft das nicht. Ich
habe von einer süddeutschen Klinik gehört, die 100 ausländische
Arbeitskräfte gewonnen hatte. Davon gehen jetzt 80 zurück, da sie
enttäuscht sind über die mangelnde Unterstützung bei der Integration.
Das können wir uns schlicht nicht leisten. Wir brauchen in der
Gesellschaft ein anderes Miteinander, ein anderer Zugehen auf die
Migranten.
Was sind die Kernpunkte im geplanten Fachkräfteeinwanderungsgesetz?
Wir
stellen nicht mehr nur ab auf gleichwertige Berufsqualifikationen,
sondern es gibt einen zweiten Ansatz, in dem auf das Potenzial der
Menschen geschaut wird. Und drittens wollen wir auch die Zuwanderung
geringqualifizierter Arbeitskräfte und wollen, dass Menschen hier ihre
Ausbildung machen. Die Bauwirtschaft zum Beispiel hat ein massives
Interesse daran.
Ist die Zuwanderung das herausragende arbeitsmarktpolitische Thema 2023?
Ja,
neben der Weiterbildung. Wir werden das Qualifizierungskurzarbeitergeld
beschließen, also eine Verbindung von Weiterbildung und Kurzarbeit, um
Beschäftigte für die Transformation fit machen zu können. Nach Umfragen
in der Metallindustrie ist für 90 Prozent der Beschäftigten
Weiterbildung das drängendste Thema. Dazu stellen wir ein Instrument
bereit, das es den Betrieben erleichtert, Belegschaften zu halten und
sie zugleich auf veränderte Arbeitsprozesse vorzubereiten.
Eine höhere Tarifbindung wird Gegenstand der politischen Auseinandersetzung.
Frank Bsirske
Wie
bereits in der vergangenen Koalition hat Arbeitsminister Heil auch in
dieser Legislatur ein Tariftreuegesetz auf der Agenda. Klappt das dieses
Mal?
Das Tariftreuegesetz steht im Koalitionsvertrag, das
werden wir in den nächsten Monaten umsetzen. Bei den weiteren Schritten
wird es Diskussionen geben, etwa bei der erleichterten
Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Die FDP vertritt an diesem
Punkt die Position der Arbeitgeberverbände. Da ist also noch viel
Überzeugungsarbeit zu leisten.
Warum sind Tarifverträge
wichtig, wenn die Unternehmen freiwillig ordentliche Gehälter zahlen, um
überhaupt Arbeitskräfte zu bekommen?
Tarifverträge bieten
bessere Arbeitsbedingungen. Die Prekarisierung von Arbeitsbedingungen in
den vergangenen 20 Jahren ging einher mit einem Verlust der
Tarifbindung. Das wollen wir korrigieren. Jedes Jahr vergibt der Bund
Aufträge in dreistelliger Milliardenhöhe. Die Vergabe dieser Aufträge
nur an Firmen, die den repräsentativen Tarifvertrag ihrer Branche
anwenden, ist naheliegend und wird zu einer Stärkung des Tarifsystem
führen. Hinzu kommt die Ausweitung nachwirkender Tarifverträge: Wenn
Betriebsteile im Unternehmensverbund ausgegliedert werden mit dem Ziel
das Lohnniveau zu senken, werden diese „neuen“ Betriebe künftig solange
das alte Tarifniveau zahlen müssen, bis es einen neuen Tarifvertrag
gibt.
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Und das alles führt dann dazu, dass im Osten künftig mehr als 43 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt werden?
Im
Rahmen der europäischen Mindestlohnrichtline soll ein Tarifbindungsgrad
von 70 Prozent der Beschäftigten angestrebt werden. Wenn das Ziel nicht
erreicht ist, sollen die Mitgliedstaaten erläutern, wie sie die 70
Prozent zu erreichen gedenken. Das Thema wird also zunehmend Gegenstand
der politischen Auseinandersetzung werden.
Das gilt auch für das kirchliche Arbeitsrecht, das sich die Ampel laut Koalitionsvertrag anschauen will. Warum eigentlich?
Wenn
es in den nächsten Monaten zu Gesprächen mit den Kirchen kommt, dann
geht es zunächst einmal um die Aufnahme kirchlicher Einrichtungen in den
Bereich des Betriebsverfassungsgesetzes. Die Mitarbeitervertretungen
bei der Diakonie und bei der Caritas haben deutlich weniger Rechte als
die Arbeitnehmervertretungen im Geltungsbereich des
Betriebsverfassungsgesetzes. Das ist so nicht länger hinnehmbar. Und der
Austritt aus der Kirche kann auch kein Kündigungsgrund mehr sein – das
überprüft derzeit der EuGH. Kurzum: Wir wollen einen rechtlichen Zustand
erreichen, den es bereits in Weimar gab. Die Kirche braucht kein
Sonderarbeitsrecht, um Kirche zu sein.
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